Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 1.3.2011 in der Rechtssache Association belge Test Achats und andere ein Grundsatzurteil verkündet. Er hat entschieden, dass die von Art 5. Abs. 2. der Richtlinie 2004/113 (Gleichstellungsrichtlinie) bislang auf der Grundlage von geschlechtsspezifischen Statistiken gestattete Ausnahme vom Prinzip identischer Prämien und Leistungen bei Männern und Frauen ab dem 31.12.2012 unwirksam ist.
Das Urteil hat weitreichende praktische Auswirkungen und betrifft insbesondere Verträge in den Sparten Kfz-, Unfall-, Lebens- und Rentenversicherung, aber auch die private Krankenversicherung, d.h. alle Tarife, bei denen bislang auf Grund geschlechtsspezifischer Unterschiede (Rentenlaufzeit infolge differenzierter Lebenserwartung, unterschiedlicher versicherungsmathematisch zu kalkulierender voraussichtlicher Leistungen etc., geschlechtsspezifische Versicherungsprodukte kalkuliert sind .
Alle Tarife, bei deren Kalkulation zwischen Frauen und Männern unterschieden wurde, müssen zum 31.12.2012 für das Neugeschäft geschlossen werden. Das Urteil erklärt eine Ausnahmeregelung, auf der die bestehenden Kalkulationen beruhten, für unwirksam (Absätze 30 – 34 des Urteils). Versicherungsverträge können die Wirksamkeit der Gleichstellungsrichtlinie nicht einschränken.
Die Schließung bestehender Tarife für den Neuzugang bedeutet in der Krankenversicherung, dass in einem Abrechnungsverband früher oder später die „Vergreisung“ des Tarifs und damit ev. eine überproportionale Beitragssteigerung droht. Das ist einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer, der auf seinen abgeschlossenen Versicherungsschutz vertraut, kaum vermittelbar.
Deshalb hat das Urteil des EuGH – zumindest möglicherweise – auch Auswirkung auf Altverträge, denen eine geschlechtsspezifische Kalkulation der Tarife zu Grunde liegt.
Für die Umsetzung der Richtlinie in Deutschland besteht zwar das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dieses scheint möglicherweise jedoch nicht in vollem Umfang im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH zu sein. Wenn § 19 Abs.1 Ziffer 2 AGG festlegt, dass eine Benachteiligung wegen des Geschlechts bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben, unzulässig ist, steht dies sicherlich im Einklang mit den aus dem Urteil vom 01.03.2011 resulttierenden Anforderungen. Nach § 20 Abs. 2 AGG ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Geschlechts im Falle des § 19 Abs.1 Nr. 2 AGG bei den Prämien oder Leistungen aber zulässig, wenn dessen Berücksichtigung bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist. Dies wäre mit dem Urteil des EuGH – für sich allein gesehen – unvereinbar.
Gemäß § 33 Abs. 4 Satz 1 AGG ist § 19 Abs. 1 AGG aber nicht auf Schuldverhältnisse anzuwenden, die eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben, wenn diese vor dem 22. Dezember 2007 begründet worden sind. Gemäß § 33 Abs. 4 Satz 2 AGG gilt § 33 Abs. 4 Satz 1 AGG nicht für spätere Änderungen solcher Schuldverhältnisse. Hier besteht eine mögliche Rückwirkung in die Bestände. Bei einer strengen Auslegung, nach der jede Änderung eine Änderung in diesem Sinne wäre, könnten auch alle vor dem 22.10.2007 seit dem Inkrafttreten der Richtlinie (2004) abgeschlossenen Verträge betroffen sein, bei denen in der Zwischenzeit – und auch in der Zukunft Änderungen jeder Art vorgenommen werden. Es ist auch eine weniger strenge Auslegung denkbar, nach der nur Änderungen erheblich sind, bei denen durch einen Wechsel biometrischer Parameter auf die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Kalkulationsgrundlagen zurückgegriffen wurde.
Damit wird durch § 20 Abs. 2 AGG eine der durch das Urteil als unzulässig erklärten – unbefristeten – Regelung in der Richtlinie 2004/113 vergleichbare Rechtslage geschaffen.
Dass die Ausnahmeregelung des § 20 Abs. 2 AGG nach dem Urteil ebenfalls gegen die Grundsätze der Richtlinie verstößt und ab dem 31.12.2012 als unwirksam anzusehen ist, kann nicht ausgeschlossen werden. Dazu äußert sich die Entscheidung nicht.
Durch den Fortfall der Ausnahmeregelung in § 19 Abs. 1 AGG ist aber jedenfalls nach dem Urteil des EuGH eine Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf alle ab dem 22.12.2007 abgeschlossenen Verträge gegeben. Unter Umständen ist auch eine Rückwirkung bis zum Inkrafttreten der Richtlinie 2003/114 EG denkbar.
Wir gehen davon aus, daß der Gesetzgeber mit einer richtlinienkonformen Änderung des AGG die auch von der Gleichstellungsrichtlinie in Erwägungsgrund 18 ermöglichte Beschränkung der Rückwirkung verwirklichen kann.
Alle Tarife, die ab dem 1.1.2013 im Neugeschäft angeboten werden, dürfen bei der Kalkulation keine geschlechtsspezifischen Merkmale berücksichtigen.
Wenn die Verträge über den Stichtag des 31.12.2012 hinaus bestehen sollen, muss wohl die Kalkulation ab diesem Stichtag auf die neuen Rechnungsgrundlagen umgestellt werden.
Eine eingehende Würdigung dieses Urteils und eine kurze Beschreibung seiner Auswirkungen in einzelnen Sparten finden Sie in den nächsten Tagen an dieser Stelle.
Für Fragen zu diesem Thema steht Ihnen Dr. Knut Höra aus unserem Büro in Frankfurt/Main und Thomas Leithoff aus unserem Büro in Berlin zur Verfügung.
Johannsen Rechtsanwälte plant in Zusammenarbeit mit Aktuaren und dem Hamburger Institut für Versicherungs- und Haftpflichtrecht Veranstaltungen, in deren Rahmen die Auswirkungen dieses Urteils in der Praxis dargestellt werden soll. Wenn Sie Interesse an dieser Veranstaltung haben, können Sie sich mit einer Email an diese Adresse hamburg@kanzlei-johannsen.de auf die Verteilerliste für die Einladung eintragen. Vergessen Sie bitte nicht, Ihren Namen und Ihre Adresse anzugeben.