Gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und § 138 Abs. 2 ZPO muss das Berufungsgericht vor einer abweichenden Entscheidung von den Angaben einer Partei während der persönlichen Anhörung der Gegenpartei einen rechtlichen Hinweis geben. Wenn das Gericht das Vorbringen einer Partei unerwartet würdigt und dabei die gewissenhaften und sachkundigen Prozessbeteiligten überrascht, verletzt es das Recht auf rechtliches Gehör. Es genügt nicht, der Gegenpartei nach der Anhörung die Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wenn objektiv kein Anlass für eine solche Stellungnahme besteht. Ohne vorherigen Hinweis darf das Gericht neue Angaben einer Partei nicht einfach als zugestanden ansehen. Dies hat der Bundesgerichtshof in einem Beschluss vom 19.04.2023 entschieden.
In dem Rechtstreit macht der Kläger Ansprüche aus einer Gebäudeversicherung wegen eines Brandschadens in einer Scheune geltend. Das Landgericht wies die Klage ab, aber das Oberlandesgericht verurteilte den Versicherer zur Zahlung eines Vorschusses und stellte die Verpflichtung zum Ersatz des Zeitwertschadens fest. Das OLG stützte sich dabei auf die Angaben des Klägers während seiner Parteianhörung, ohne dem Versicherer vorher einen rechtlichen Hinweis zu geben. Der Bundesgerichtshof hob das Berufungsurteil auf und verwies den Fall an das OLG zurück.
Der BGH moniert, dass das OLG den Anspruch des Versicherers auf rechtliches Gehör verletzt habe. Die Entscheidung des OLG, die Gefahrerhöhung aufgrund der Angaben des Klägers zu verneinen, kam überraschend. Das OLG durfte sich nicht allein auf die Angaben des Klägers stützen, ohne zuvor dem Versicherer einen rechtlichen Hinweis zu geben und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu bieten. Das Gericht ist verpflichtet, den Beteiligten alle wesentlichen Informationen mitzuteilen. Eine Verletzung dieser Pflicht verstößt gegen das Recht auf rechtliches Gehör, insbesondere wenn das Gericht das Vorbringen einer Partei unerwartet würdigt, mit dem selbst gewissenhafte und sachkundige Prozessbeteiligte nicht rechnen konnten.
Darüber hinaus hatte die Beklagte keine ausreichende Gelegenheit, sich zu den Angaben des Klägers während seiner Anhörung zu äußern. Es genügt nicht, dass das OLG nach der Anhörung die Möglichkeit zur Stellungnahme gab, wenn aus Sicht des Versicherers kein Anlass für eine solche Stellungnahme bestand. Das OLG hätte vorher einen Hinweis geben müssen, da die Beklagte aufgrund des bisherigen Verfahrensverlaufs nicht davon ausgehen musste, dass eine Gefahrerhöhung ausgeschlossen werden könnte. Der Standort eines möglicherweise bereits bei Vertragsschluss vorhandenen Räucherofens war bis zur Anhörung des Klägers kein Thema. Das OLG durfte die Angaben des Klägers zum Standort nicht ohne vorherigen Hinweis als zugestanden ansehen. Ein Gericht darf nicht voraussetzen, dass eine Partei auf neuen Vortrag des Gegners nicht erwidern möchte, wenn sie aufgrund des bisherigen Verfahrensverlaufs nicht dazu gedrängt wurde.
Der BGH kritisierte zudem die Anforderungen des OLG an den Vortrag des Versicherers zur Schadenhöhe. Das einfache Bestreiten der Beklagten genügte den Anforderungen des § 138 Abs. 2 ZPO, da die Schätzung der Schadenshöhe durch den vom Kläger beauftragten Sachverständigen keine ausreichenden Angaben zu den zugrunde gelegten Tatsachen enthielt.
In Bezug auf den Vorschussanspruch stellte der BGH fest, dass der vom OLG angenommene Anspruch nicht auf den voraussichtlich zu zahlenden Betrag gerichtet sein kann. Im Rahmen eines Abschlagsanspruchs kann nur der endgültige Betrag verlangt werden, der dem Versicherungsnehmer sicher zusteht. Der Versicherer ist nicht verpflichtet, Vorschüsse unter dem Vorbehalt einer abschließenden Abrechnung zu zahlen. Bei der Bestimmung der Anspruchshöhe sollte der Vortrag des Versicherers zum Zeitwert der Scheune berücksichtigt werden. Gemäß § 15 Nr. 4 Satz 1 der Versicherungsbedingungen (VGB 88-L) umfasst der Anspruch auf die Neuwertspitze auch Reparaturkosten für ein durch den Versicherungsfall beschädigtes Gebäude, wenn der Versicherungsnehmer die Wiederherstellung fristgerecht sichergestellt hat.
BGH, Beschluss vom 19.04.2023 – IV ZR 204/22
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